Delegation aus Esch-sur-Alzette informierte sich über Quartiersarbeit
05.03.2025 – Offenbach ist eine internationale Stadt und pflegt gute Kontakte auch über die Landesgrenzen hinaus. Insgesamt 13 internationale Städtepartnerschaften gibt es, die meisten bestehen schon seit vielen Jahren und daraus ist ein lebendiger Austausch geworden. Man kennt und schätzt sich und lernt voneinander. Denn bei allen Unterschieden, so sind die Herausforderungen doch ähnlich.
So hat Esch-sur-Alzette als mit knapp 40.000 Einwohner zweitgrößte Stadt des Großherzogtums Luxemburg mit Wohnungsnot und sozialen Problemen zu kämpfen. Nur 20 Kilometer sind es bis zur Hauptstadt des nur dreitausend Quadratkilometer großen Großherzogtums. Wie auch Offenbach wurde Esch vor einem halben Jahrhundert vom wirtschaftlichen Strukturwandel erfasst. Während in Offenbach Unternehmen schon in den 1970er Jahren begannen, die wichtigen Bereiche Lederwaren und Elektronik nach Fernost zu verlagern und nach und nach ein massiver Abbau von Industriearbeitsplätzen begann und bis heute in der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur nachwirkt, war es in Esch in den 1980er Jahren die Stahlkrise, die zur Schließung der Bergwerke mit all ihren strukturellen Folgen führte. Geblieben ist davon das einstmals modernste Hüttenwerk Europas, Belval, auf dessen Gelände sich heute ein Wohngebiet, Unternehmen sowie eine Universität befinden. An die Vergangenheit als bedeutender Stahlstandort erinnern die Hochöfen, die heute als Industriedenkmal zu besichtigen sind.
Was läuft bei in der Sozialarbeit gut, welche Erfahrungen habt ihr und wie geht ihr soziale Probleme an, wollte eine Delegation aus Esch bei ihrem zweitägigen Besuch Mitte Februar in Offenbach erfahren. Deshalb war Ralf Theisen, in der Stadt Offenbach zuständig für die Koordination der Quartiersmanagements und die Sozialplanung, mit Stadtrat Bruno Cavaleiro, dem Leiter der Sozialkoordination Emmanuel Cornelius, Boris Molitor, Koordinator der aufsuchenden Sozialarbeit, Edvard Skrijelj, Directeur von Inter-Actions, einem landesweit tätigen Verband für Gemeinwesenarbeit, und seinem Mitarbeiter Artur Cardoso unterwegs, ermöglichte Gespräche vor Ort, Austausch und Begegnungen.
Die Gesichter wechseln, die Geschichten bleiben
Erste Station war das Stadtteilbüro Nordend am Goetheplatz. Dort wurde die Delegation bereits von Quartiersmanager Marcus Schenk empfangen. Das Stadtteilbüro ist seit 2010 Anlaufstelle und Treffpunkt für die Menschen des Nordends, es gibt zahlreiche Angebote für alle Altersgruppen, Lerntreffs für die Kinder der gegenüberliegenden Grundschule und Freizeitangebote. Schenk versteht sich als Kümmerer, er ist im Quartier unterwegs und mit seinem Team im Stadtteilbüro ansprechbar. „Das Nordend ist ein hochverdichteter Stadtteil und vor allem bei Familien sehr beliebt. Dass die bunte Mischung vor allem im Sommer zu Konflikten führt, ist fast nicht zu vermeiden. Aber wir sind da, vermitteln und laden die Menschen immer wieder ein, sich zu begegnen“, so Schenk.
Zur Mittagspause hatte Theisen die Gruppe im START-Projekt der vhs angemeldet. In der Produktionsschule werden Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren ohne Schulabschluss im Bereich Gastronomie und Hauswirtschaft qualifiziert. Seit 30 Jahren gibt es das Ausnahmeprojekt, das Jugendlichen eine Struktur gibt. „Die kommen meistens aus prekären Familienverhältnissen, sind unpünktlich, unzuverlässig und chillen lieber“, erzählt der Fachanleiter und Küchenchef der Produktionsschule Markus Wolk, lobt aber schmunzelnd auch ihre Kreativität, wenn es ums Vermeiden ginge. Trotzdem profitierten die meisten Jugendlichen und fänden dann einen guten Anschluss. Der Pädagoge Nikolaj Schmidt ergänzt: „Die Gesichter wechseln, die Geschichten bleiben“, eben die Probleme von jungen Menschen, einen Platz zu finden, an dem sie Anerkennung und Zuspruch genießen.
„Diese suchen sie häufig in der Provokation. Wobei es manchmal so wirkt, als sei für manche Menschen schon die bloße Anwesenheit von Jugendlichen inzwischen eine Provokation“, berichtet der Leiter der Kinder- und Jugendarbeit beim Jugendamt, Patrick Probst, von Beschwerdeanrufen: „Wir sollen dann deren Ansicht nach für Ruhe sorgen. Das ist aber weder unser Selbstverständnis noch unser Auftrag.“ Jugendliche bräuchten Räume zur freien Entfaltung und die seien besonders in der Innenstadt mit einer Bevölkerungsdichte von 3.000 Personen auf einem Quadratkilometer rar. Im Konfliktfall werde daher versucht zu vermitteln, sagt Probst. „Wir haben natürlich Angebote, aber das ist nicht immer das, was die Jugendlichen suchen.“
Aktiv werde man bei notorischen Schulschwänzern oder jenen, die weder in der Schule, Beschäftigung, Ausbildung oder im Studium seien. Diesen sogenannten NEETs (Not in Education, Employment or Training) oder auch jenen, die Wohngruppen verlassen und dann bei Freunden oder im schlimmsten Fall auf der Straße leben („Care Leaver“), versucht man beispielsweise mit dem Projekt „Back up“ im Jugendbildungswerk wieder einen Boden unter den Füßen zu verschaffen. „Das ist ganz viel Aufsuchen, Mitgehen und Unterstützen. Vor allem, wenn es darum geht, Anträge auf Wohngeld oder ähnliches zu stellen, ist Scheitern sonst schon vorprogrammiert.“ Das Problem der Zukunftsplanung und des bezahlbaren Wohnraums kennt man auch in Esch, dort gibt es aktuell eine lange Warteliste von Jugendlichen, die auf eine Wohnung warten.
Anschließend besuchte die Delegation auch das Mehrgenerationenhaus KJK Sandgasse, wo Pia Praschma vom Jugendamt viele interessante Einblicke in die praktische Jugendarbeit und die Medien-Etage, in der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Alltagsmedien kreativ und selbstbestimmt nutzen können. Darüber hinaus werden Kompetenzen im Umgang mit sozialen Netzwerken, der eigenen Mediennutzung und –produktion vermittelt.
„Jab, Box, Break“: Seit 2003 gibt es das Boxprojekt BC-Nordend, entstanden im Jugendzentrum Nordend hat es sich zu einem bundesweit anerkannten Gewaltpräventions- und Integrationsprojekt entwickelt. Das beeindruckte auch die Besucher, die von Präsident Wolfgang Malik und Trainer Bernd Hackfort sprichwörtlich mit in den Ring genommen wurden. Viel Zeit zum Austausch blieb nicht, denn im Stadtteilbüro Mathildenviertel wartete schon Quartiersmanagerin Julia Wahl auf die Delegation. Im Mathildenviertel gibt es das älteste von insgesamt vier Stadtteilbüros mit einem Quartiersmanagement, etwas, was es in Esch bisher noch nicht gibt. Entsprechend interessiert zeigten sich die Luxemburger an den Offenbacher Erfahrungen. Jedes Quartier habe andere Herausforderungen, berichtete Wahl, so sei das Mathildenviertel geprägt durch eine starke Fluktuation und eher ein Transferraum, dem sie und ihr Team mit aufsuchenden Angeboten und Veranstaltungen, die zum Kennenlernen einladen, entgegenzuwirken versuchen. Mittlerweile sei der Mathildenplatz im Sommer ein Platz zum Verweilen geworden und es brächten sich inzwischen mehr Menschen aus dem Quartier bei gemeinsamen Aktionen ein. Ob Migration ein Problem sei, wollte Emmanuel Cornelius wissen. „Nein, wir haben ein breites Angebot, feiern Nikolaus und Zuckerfest und erreichen dann auch viele Mütter und Kinder, die sich sonst nicht angesprochen fühlen“, erklärte Wahl. „Integration hat Tradition in Offenbach und wir wissen, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Ansprachen benötigen“, ergänzte Theisen. „Viele wollen zum Beispiel gar nicht über Verbesserungen ihres Wohnumfelds reden, weil sie andere, meist existentielle, Probleme haben. Dass sich aber die Menschen trotzdem und bei anderen Angeboten beteiligen und mit ihrem Quartier identifizieren, darum geht es!“
Inklusion, Integration oder luxemburgerisch zusammen
Landläufig gilt Offenbach als „Integrationsmaschine“, „making Heimat“ ist hier vergleichsweise einfacher als an anderen Orten. „Bei allem geht es um Augenhöhe, ein Verständnis für die Probleme der Menschen“, so Theisen weiter. „Dafür gibt es auch unterschiedliche Interessengruppen wie den Ausländerbeirat oder in Fragen der Inklusion den Behindertenbeirat.“ Ersteren habe man in Esch abgeschafft, erklärt Stadtrat Cavaleiro. „Wir haben festgestellt, dass die Beiräte jeweils nur Partikularinteressen vertreten und wollten ein breiteres Bündnis.“ Deshalb sei aus dem Ausländerbeirat erst ein Integrationsbeirat und schließlich Vivres Ensembles (Zusammenleben) geworden, ein Gremium, in dem Menschen mit Migrationshintergrund, alteingesessene Bürgerinnen und Bürger, aber auch Pendler vertreten seien – schließlich, so Cavaleiro weiter, hinterließen alle eine Spur in der Stadt, hätten Wünsche und Bedürfnisse, die so besser abgebildet seien.
Um Vernetzung geht es auch bei der Arbeit des Sozialamts in Offenbach, hier laufen die verschiedenen Fäden zusammen und werden Grundsicherung, Bildung und Teilhabe ebenso verwaltet und koordiniert wie Beihilfen zur Bestattung und Soziale Dienste. Amtsleiter Oliver Beckmann und Susanne Pletscher, stellvertretende Amtsleiterin und zuständig für besondere Dienste, stellten den Besuchern am zweiten Tag ihres Aufenthalts die verschiedenen Angebote und Akteure im Bereich der aufsuchenden und der Gemeinwesenarbeit vor. Anschließend machte sich die Gruppe auf den Weg zum Stadtteilbüro Lauterborn und wurde dort von Anette Bacher von CariJob und Quartiersmanagerin Antje Dins empfangen. Anfang der 1960er Jahre als Wohnquartier mit viel Sonnenlicht, Grünflächen und Platz für Kinder konzipiert, galt das Lauterborn einige Jahre später als Problemviertel mit einer hohen Kriminalitäts- und Gewaltrate. „Schnee von gestern“, meint Dins, die neben ihren Aufgaben als Quartiersmanagerin auch als Leiterin des Seniorentreffes Lauterborn zugleich Angebote für Seniorinnen und Senioren anbietet. Das Quartier ist trotz seiner heterogenen Bevölkerungsstruktur heute das, was es schon bei der Planung sein sollte: Ein ruhiger Stadtteil mit Schulen, Schwimmbad und dem nahen Stadtwald. Sozialdezernent Martin Wilhelm erläuterte den Gästen aus Esch bei einem gemeinsamen Mittagessen der Lauterborner Küche im Stadtteilbüro die Vorteile von verknüpften Angeboten: „Im Lauterborn haben wir besonders viele junge und besonders viele ältere Menschen. Daher ist die – auch räumliche - Verknüpfung der Angebote des Quartiersmanagements und des Seniorentreffs besonders interessant. Jüngere können von Älteren lernen – und umgekehrt. Wir müssen gemeinsam auf vielen verschiedenen Ebenen Verständigung leben und fördern, damit der Zusammenhalt der Gesellschaft auch künftig nicht gefährdet wird“.
Nach dem Mittagsessen im Stadtteilbüro ging es mit dem Auto wieder stadteinwärts ins Senefelderquartier. Die geplante Begehung des Rolandparks fiel wegen Starkregens aus, stattdessen berichteten die beiden Quartiersmanagerinnen Jessica Teschke und Katrin Weimann aus dem ehemaligen Arbeiterviertel. Die großen Industriebetriebe haben Wohnhäusern Platz gemacht und dort, wo früher Druckmaschinen produziert wurden, sind heute ein Supermarkt und der Rolandpark mit Spielplatz und Grünfläche. Laut sind dort nur noch die Jugendlichen, die nach Meinung einiger mit ihrer Musik die Anwohnenden nerven. Gemeinsam mit dem Jugendamt sind Teschke und Weimann dort immer wieder als Vermittlerinnen gefragt.
Das war die letzte Station eines „erfolgreichen und bereichernden Besuchs“, so die Delegation beim Abschied den Blick über ihre Landesgrenzen. Die Herzlichkeit und Offenheit, mit der sie empfangen worden seien, spiegele sich auch in den exzellenten Beziehungen zwischen beiden Partnerstädten wider. „Wir hoffen, dass wir diesen wertvollen Austausch fortsetzen und die Zusammenarbeit zwischen unseren Städten weiter vertiefen können.“