1848: Bahnhofstraße war Zentrum Offenbacher Lebens
Es gehört zu den Kuriositäten, über die Zugewanderte sich wundern: In Offenbachs Bahnhofstraße gibt es keinen Bahnhof und kein Gleis. Sie ist nicht einmal auf einen Bahnhof ausgerichtet. Dennoch trägt sie ihren Namen zu Recht. Denn dort, wo sie auf die Kaiserstraße stößt, befand sich einst die Endstation der Lokalbahn, die Offenbach mit Sachsenhausen verband. Und damals war die Bahnhofstraße ein Zentrum Offenbacher Lebens.
Als 1873 die Bahnstrecke Frankfurt-Bebra fertiggestellt und der heutige Offenbacher Hauptbahnhof eröffnet wurden, war die Lokalbahn schon 25 Jahre lang in Betrieb. Bis dahin hatte man nur über sie in Frankfurt das bereits existierende deutsche Bahnnetz erreichen können. Im amtlichen Verkehr trug der neue Bahnhof an der Bismarckstraße denn auch die Bezeichnung „Neu-Offenbach“. Der Lokalbahnhof hieß „Alt-Offenbach“.
Er stand dort, wo heute zwischen Bahnhofstraße und Berliner Straße ein neues Wohnhaus errichtet wurde. Mit der Front zur Kaiserstraße und einem Uhrtürmchen auf dem Dach schloss daran, das „Maschinenhaus“ an, in dem die Lokomotiven ihre Nachtruhe hielten. Man muss sich vorstellen, wie lebhaft es an Offenbachs Tor zur Welt zuging. Droschkenkutscher und Dienstmänner buhlten lautstark um Kunden, Reisende hasteten, Dampfloks zischten.
Von der Betriebsamkeit lebte, dem Bahnhof gegenüber, das Hotel und Restaurant „Degenhardt“, dessen Gebäude noch immer gastronomisch genutzt wird. Es galt als ein Haus der gehobenen Kategorie. „Hier hat man Gelegenheit, sich staunend zu ergötzen“, befand ein Reiseführer aus dem Jahr 1905. An Sommerabenden konzertierte im geräumigen Garten eine Militärkapelle. Das Haus bot Diners und Soupers. Übernachtungsgäste fanden „neu und gut möblierte Zimmer“ vor.
In den oberen Räumen des „Degenhardt“ hatte der 1834 gegründete „Bürgerverein“ sein Domizil. Der Volksmund nannte ihn „Das Kleine Colleg“. Im Gegensatz zu dem älteren Großen Colleg galt der Verein in den Revolutionswirren von 1848/49 als ein revolutionärer Club. Zu seinen Mitgliedern zählte beispielsweise der radikale Offenbacher Demokrat Dr. Lorenz Diefenbach.
Später wurde der „Bürgerverein“ als Zentrum kultivierter Abendgesellschaften bekannt. Im „Degenhardt“ verfügte er über ein Gesellschaftszimmer mit Klavier, ein Billardzimmer, ein Spielzimmer für Karten-, Schach- und andere Brettspiele. Die Mitglieder fanden Zeitungen, Zeitschriften und eine Bibliothek vor. Man konnte Vorträge hören, Tanz- und „Familienabende“ genießen. Geöffnet war täglich ab 18 Uhr, an Sonn- und Feiertagen ab 11 Uhr.
Frauen hatten also Zugang. Gleichwohl wird das wohl ein exklusiver Club gewesen sein. Die Lokalbahn indes nahm sich das breite Volk. Jahrelang hatte sich der Bau der Trasse durch immer neue Schwierigkeiten geschleppt. Auch als im März 1848 endlich alles betriebsbereit war, scheiterte die Eröffnung an einem Streit zwischen Frankfurt und dem Großherzogtum Hessen, zu dem Offenbach gehörte. Der Zwist ging um Fahrpreise, Betriebsbedingungen und dergleichen. Aber er vollzog sich in einer Zeit politischer Unruhe. Das Volk wurde aufsässig.
Am 8. März 1848 drang eine ungeduldige Volksmenge in den Bahnhof ein. Sie zwang das Personal zum Anheizen einer Lok. Jubelnd stürmte die Menge in die Waggons, und dann setzte der Zug sich tatsächlich in Bewegung. Tagelang fuhren die Offenbacher und Frankfurter nun ohne Fahrschein hin und her. Erst am 15. März konnte ein geordneter Fahrkarten-Verkauf durchgesetzt werden, und am 9. April gab es auch einen Fahrplan. Offiziell freilich nahmen die Behörden den illegalen Start nicht zur Kenntnis. Sie datierten die Eröffnung der Bahn auf den 16. April.
1905 kostete die Zehn-Minuten-Fahrt nach Sachsenhausen 10 Pfennig in der vierten Wagenklasse, 20 Pfennig in der dritten und 30 Pfennig in der zweiten. Kostenlos konnten die Offenbacher dann noch einmal am 1. Oktober 1955 fahren. Es war der letzte Tag der Lokalbahn, auf deren Trasse heute der Verkehr der Berliner Straße tost.
Lothar R. Braun