1838: Immer lag Posen weit vorne
Frankfurter Straße 56-60. Aus einem wenig ansehnlichen Flachbau am Bürgersteig gucken die Schaufenster eines Ladengeschäfts. Vor Jahrzehnten hat er die Zapfsäulen einer Tankstelle verdrängt. Um sie herum hatte in den 1950er Jahren der Kinobesitzer August Arends ein Gebäude gruppiert, dem er den anspruchsvollen Namen „Europa-Haus“ gab. Nichts erinnert noch daran. Erst recht ging vergessen, dass in fernen Zeiten hier das eleganteste Hotel der Stadt Gäste empfing. Nach 1800 war das, als hier das vornehme äußerste Westend lag. Es ist aus dem Gedächtnis geschwunden wie die Erinnerung an die Lederwarenfabrik Posen, die an dieser Stelle zum ersten „global player“ der Lederwarenindustrie wurde.
Der Name Posen ist in der Offenbacher Industriegeschichte mit Glanz verzeichnet. Er verbindet sich mit dem Aufstieg der Lederwarenbranche, aber auch mit der Geschichte der Jüdischen Gemeinde. Bis zu ihrem Erlöschen im Jahr 1930 konnte die Firma Eduard Posen & Co. sich als „Älteste Offenbacher Portefeuille Fabrik“ bezeichnen. Frühere Gründungen waren da bereits seit längerem vom Markt verschwunden. In seinen besten Jahren unterhielt das exportstarke Unternehmen Niederlassungen in Paris, London, Stockholm und Bukarest, in den Metropolen Südamerikas und in Florenz, Athen und Lissabon.
Begonnen hatte das im Haus Frankfurter Straße 5, wo 1792 dem Manufakturwaren-Händler Posen ein Sohn geboren wurde, der die Vornamen Eduard Hirsch erhielt. 1831, in der Zeit einer blühenden Offenbacher Handelsmesse, baute dieser Sohn das Unternehmen um zu einer Spedition mit „Commissionsgeschäft“. Damit war nichts mehr zu verdienen, nachdem Frankfurt 1836 seinen alten Platz als Messestandort zurückgewonnen hatte. Eduard Posen baute deshalb abermals um. 1838 gründete er eine „Portefeuille- und Etui-Fabrik“.
Sie fiel rasch durch eine Fülle von Innovationen auf, die dann auch von anderen Lederwaren-Herstellern aufgegriffen wurden. 1848, zum Beispiel, brachte Posen die ersten Brieftaschen mit Goldprägung auf den Markt. Später wurden auch Lithographien als Schmuck für Brieftaschen genutzt. Seit 1847 waren Taschenbügel aus dem Haus Posen mit Leder bezogen.
1856 führte Posen Taschen mit Klappschlössern ein. Schon davor konnte man Brieftaschen mit Schloss ordern. Bei der großen Hessischen Landesgewerbeausstellung, die 1879 im heutigen Dreieichpark stattfand, fiel Posen mit einem Fotoalbum in den Maßen 100 x 50 cm auf. In das Album war eine Spieldose eingebaut, und in das Leder des Deckels war die Figur einer Germania eingeprägt. Geschmeidig und stets zu Neuerungen bereit, reagierte das Haus Posen auf die Wendungen des Marktes und der Mode. Auf den Weltausstellungen in London und Paris konnte es damit Medaillen scheffeln.
1850 erwarb die Firma das einstige First-class-Hotel „Darmstädter Hof“ an der Frankfurter Straße, nahe der Kreuzung Kaiserstraße. Nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ist an dieser Stelle der damals als „Europa-Haus“ bezeichnete Gebäudekomplex entstanden. Im „Darmstädter Hof“ pflegte einst der Großherzog abzusteigen, wenn er Offenbach besuchte. Den Saal des Hotels nutzte auch die damalige „Deutsch-Katholische“ und spätere Frei-religiöse Gemeinde, bevor sie ihre Weihehalle am Schillerplatz beziehen konnte.
Eduard Hirsch Posen starb 1853. Schon 1818, als noch recht junger Mann, war er in den Vorstand der Jüdischen Gemeinde berufen worden. Drei Jahre später wurde ihm sogar das Amt des Gemeindevorstehers anvertraut. Er galt als Vorkämpfer einer liberalen Religiosität. Beispielsweise die Einführung der deutschsprachigen Predigt in der Synagoge wird ihm zugeschrieben. Gerühmt wurde er als der Gründer eines jüdischen Hospitals und einer Kasse zur Ausbildung jüdischer Handwerker.
Seiner Vaterstadt diente Eduard Posen darüber hinaus als Mitglied des Gemeinderats. Dem Gremium gehörte er von 1830 bis zu seinem Ableben an. Zahlreiche kommunale Einrichtungen sollen auf seine Initiativen zurückgehen, die Gasbeleuchtung der Straßen etwa, die Städtische Sparkasse und das Leihhaus.
Im Eingangsbereich des Geschäftshauses an der Frankfurter Straße hing jahrzehntelang eine Bronzetafel mit dem Bild des Verstorbenen und einem ehrenden Text. Er schloss mit einer Zuversicht: „Wohl werden von seinem Leichenstein die Wogen der Zeit den Namen Posen wegspülen, aber in den Annalen der Geschichte Offenbachs wird er fortleben bis zu den spätesten Enkeln“. Der Leichenstein indes wurde keineswegs „weggespült“. Er markiert Posens Grab auf dem jüdischen Teil des Alten Friedhofs.
Lothar R. Braun
veröffentlicht in der OFFENBACH POST (Öffnet in einem neuen Tab)