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Stadt Offenbach

1830: Waldstraße erstmals erwähnt

Am Marktplatz war Schluss. Für Generationen von Offenbachern endete ihre Stadt an dem nach 1700 angelegten Platz, um dessen Umgestaltung seit Monaten gestritten wird. Etwa dort, wo der Markt zur Waldstraße wird, stand bis 1818 das Tor, durch das man südwärts die Stadt verließ. Dort begann im 18. Jahrhundert die Straße nach Darmstadt. Sie führte durch Wald und Flur. Nach heutigem Standard freilich war das kaum mehr als ein Feldweg.

Waldstraße um 1830

Wenn die Offenbacher von diesem Tor sprachen, nannten sie es das Hanauer Tor, häufig aber auch das Galgentor. Weil es das Letzte war, das zum Tode verurteilte Straftäter vor ihrer Hinrichtung von Offenbach sehen konnten. Für sie führte unsere heutige Waldstraße nicht nach Darmstadt, sondern schnurstracks in die Ewigkeit. Wer sie jedoch heute begeht und befährt, kann an ihr die Entwicklung der Stadt abmessen. So wie sich an den Jahresringen das Wachstum eines Baumes messen lässt.

Die Bezeichnung Waldstraße taucht für diesen Verkehrsweg erst um 1830 auf, nachdem vom Marktplatz her eine lockere Bebauung eingesetzt hatte. Im Sprachgebrauch hielt sich noch die Bezeichnung „Triftstraße“. Eine „Trift“ gab es fast in jedem Ort. So hieß hierzulande der Weg, auf dem das Vieh zur Weide getrieben wurde. Noch immer gehörte die Waldstraße vornehmlich den Offenbacher Hirten mit ihren Kühen und Ziegen. Aber es gab bereits Häuser. Sie mehrten sich, nachdem 1818 das Galgentor auf der Höhe der Geleitsstraße niedergelegt worden war. 1830 hatte die Bebauung die Höhe der heutigen Bismarckstraße und die Bahnlinie erreicht.

Bahnübergang Waldstraße vor Höherlegung Bahn

Die Bahn gab es damals natürlich noch nicht. Erst 1873 fauchten die ersten Dampfloks auf der Strecke Frankfurt-Bebra. Sie berührten die Stadt nur an ihrem Rand. Noch beklagten die Offenbacher, dass man den Bahnhof viel zu weit vom Kern der Stadt auf freiem Feld gebaut habe. Für die junge Waldstraße aber wurde die Bahn zu einem Riegel.

Etwa fünfzig Jahre lang kreuzten die Züge diese Straße auf ebener Erde, gesichert allein durch die vom Bahnwärter mit der Hand gekurbelten Schranken. Je dichter die Zugfolge wurde, umso länger stauten sich die Pferdefuhrwerke vor geschlossenen Schranken. Unfälle blieben da nicht aus, und Ärger ohnehin nicht. Nur für Fußgänger gab es seit dem Ende des Jahrhunderts eine Erleichterung. Sie konnten die Gleise auf einem Steg überqueren. Offenbacher Buben nutzten ihn gern mit Versuchen, aus der Höhe in die Schornsteine der Lokomotiven zu spucken.

Da hatte sich die Waldstraße schon weiter gestreckt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trieb eine zunehmende Industrialisierung die Einwohnerzahl in die Höhe. Das ermunterte zum Bau mehrstöckiger Häuser mit Mietwohnungen. Die Bebauung wurde dichter, die Lücken schlossen sich. In der ersten Zeit war ja keineswegs in einem kontinuierlichen Prozess Haus an Haus gebaut worden. Zwischen kleinen Häusern lag vielfach zunächst noch freies Feld, und je weiter man ging, umso mehr verlor sich alles in Wiesen und unbebautem Terrain bis hin zum Wald, der weitaus näher war als heutzutage. Das änderte sich allmählich, nachdem die Bauarbeiter um 1900 die Linie Hessenring und Friedrichsring erreicht hatten.

Nach Darmstadt führte die Waldstraße nun nicht mehr. Nachdem Offenbach 1815 vom Großherzogtum Hessen-Darmstadt geschluckt worden war, hatte die neue Regierung sich beeilt, Offenbach als Verbindung zur nordmainischen Provinz Oberhessen zu nutzen. Seit 1819 gab es am Isenburger Schloss eine Schiffsbrücke über den Main. Im Jahr darauf wurde die Sprendlinger Landstraße als Verkehrsachse ausgebaut. Der Straßenstummel Darmstädter Straße ist ein Rest dieser alten Verbindung in die damalige Landeshauptstadt. Ein regelmäßiger Postdient mit Pferd und Wagen lief von Frankfurt über Offenbach, Bieber, Seligenstadt und Aschaffenburg bis nach Augsburg. Auch er benötigte die Waldstraße nicht.

Noch gab es dort Freiräume. Wo heute die Albert-Schweitzer-Schule steht, öffnete sich eine freie Fläche, auf der zu jeder Jahreszeit Kinder spielten und im Sommer Raum war für Volksfeste und gastierende Zirkusse. Gegenüber, heute steht da die AOK, imponierte eine Villa mit großem Garten. Dann folgten bis zum Wald nur noch ein paar Häuser und die Fabriken. Vom Odenwaldring nach Süden prägten Gewerbe und Industrie das Bild der Waldstraße.

Tempelseemühle

Noch immer aber nahmen Ausflügler diesen Weg, wenn sie sonntags zur Tempelseemühle spazierten. Das alte Ausflugslokal stand etwa dort, wo sich heute die Kirche St. Konrad erhebt. Sie ist, wie das gesamte umgebende Stadtviertel ein Produkt der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur der ostwärts anschließende Stadtteil Tempelsee ist älter. Er entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren.

Lothar R. Braun

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