1907: Dem Gift der Schundliteratur mit veredelnder Unterhaltung begegnet
Über den Geburtstag der Stadtbibliothek am 17. März 1907 ließe sich in der Tat diskutieren. Damals wurde mit neuen Räumen im Isenburger Schloss eine Einrichtung städtisch, die sich zwar seit drei Jahren Stadtbücherei nennen durfte, aber von einem privaten Verein betrieben worden war. Es war die 1901 in der Herrnstraße eingerichtete Lesehalle des Vereins „Ausschuss für Volksvorlesungen“.
Offenbach war damit ein Vorreiter. Das Thema lag in der Luft. Die Einrichtung von Volksbüchereien gehört zu den Erscheinungen, an denen sich das 19. Jahrhundert als eine Epoche emanzipatorischen Bemühens darstellen lässt. Die Arbeiterbewegung suchte durch Lesezirkel und Büchereien den Zugang zur „bürgerlichen“ Kultur zu öffnen.
Bürgerliche Kreise gründeten sie auch zur Abwehr sozialistischer Irrlehren. Kirchliche Organisationen suchten auf diese Weise Dämme gegen Schund und Unmoral zu errichten. Erst zum Ende des Jahrhunderts mündete dies in das Verlangen nach einem politisch neutralen öffentlichen Bibliothekswesen, wie die Angelsachsen es bereits kannten.
Angestrebt war nicht weniger als der Schritt von der Wohlfahrtseinrichtung für den kleinen Mann zur Bildungsquelle für alle Schichten. Das aber konnten nur die Kommunen leisten. „Schafft Bücherhallen!“, forderte denn auch 1899 ein Appell an die Magistrate der deutschen Städte. In Offenbach griff es der 1898 gegründete „Ausschuss für Volksvorlesungen und verwandte Bestrebungen“ auf.
Dieser musste allerdings viel Überzeugungsarbeit leisten. Die erbetene Starthilfe in Höhe von 500 Mark bewilligte die Stadtverordnetenversammlung nur mit der Mehrheit einer einzigen Stimme. Die Ablehner meinten, die Hälfte reiche wohl. Immerhin aber war die Stadt inzwischen aufgeschlossener als im Jahr 1845. Damals bot der Justizrat Thomas seine Privatbibliothek als Grundstock einer Stadtbücherei an. Die Stadt bedachte, was das an Kosten aufwerfen könnte und lehnte erschrocken ab.
Seitdem waren Jahrzehnte vergangen. In der Lesehalle von 1901 konnten Bürger Zeitungen und Zeitschriften jeder Richtung lesen. Zur Verfügung standen zudem etwa 100 Nachschlagewerke. Die ehrenamtliche Aufsicht führten nachmittags „Damen aus Bürgerkreisen und Lehrer, abends intelligente Arbeiter“.
Im ersten Jahresbericht wird betont, die Lesehalle erfülle eine besondere Mission, „wenn sie in dem durch Parteien zerklüften öffentlichen Leben Offenbachs als davon ganz unberührte zentrale Stätte zur Milderung der Gegensätze“ beitrage.
Sein volkserzieherisches Anliegen betonte der Ausschuss so: “Wir wollen dem in weitesten Kreisen vorhandenen Bedürfnis nach Bildung von Verstand und Herz gerecht werden und dem übermäßigen Besuch von Wirtshaus und verrohenden Belustigungen sowie dem fressenden Gift der Kolportageromane und Schundliteratur durch Darbietung nützlicher Belehrung und veredelnder Unterhaltung entgegenarbeiten.“
Eine Bibliothek freilich war das nicht. Im Winter 1902/03 richtete der Ausschuss deshalb an die Bürger die Bitte, mit Geld und Bücherspenden den Aufbau einer Bücherei zu ermöglichen. Die Lesehalle sollte durch eine Ausleihstelle ergänzt werden.
Daraufhin knauserten die Stadtväter nicht mehr. Aus dem Rathaus kam Geld. Das Stadtparlament bildete einen Ausschuss, von 1904 an durfte sich die Einrichtung als Stadtbücherei bezeichnen und ihre Verwaltung einem Beamten anvertrauen. Ihm ist die Statistik zu verdanken, die für 1904/05 die Entleiher genau betrachtet. Sie nennt 102 Beamte, 179 Kaufleute, 794 Handwerker, 184 ungelernte Arbeiter, 426 Schüler und „455 weibliche Personen“.
1907, vollends städtisch geworden, bezog die Bücherei im Isenburger Schloss das erste Obergeschoss. Es wurde ein Schmuckstück. Dazu trug der Lederfabrikant Ludo Mayer bei. Er stiftet die Mittel für Deckenmalereien und Wandschnitzereien. Es gab ein Lesezimmer nur für Damen, was nicht nur den Moralvorstellungen der Zeit entsprach, sondern auch dem Leserinnen. Zu kuscheliger Lektüre luden dort die Fensternischen ein.
Es wurden auch Mängel angezeigt. „Die Öfen explodieren“, klagt ein Bericht. Ruß und Staub beschädigten Bücher und Wände. Obendrein beschwerten sich die Besucher über Kälte: Sie gruppieren sich den Winter über frierend um den Ofen herum.“
Immerhin, bis 1934 blieb die Bücherei im Schloss. Erster hauptamtlicher Stadtbibliothekar wurde 1916 der als Heimatforscher unvergessene Friedrich Jöst. hm folgte 1928 Ado9lf Völker, der noch in den 50er Jahren die Offenbach-Post mit lokalgeschichtlichen Beiträgen versorgte.
Im Schloss aber wurde es eng. 1934 machte die Bücherei dem Stadtarchiv Platz. Unversehens fand sich die Bücherei „weit vom Schuss“, im Haus Frankfurter Straße 143, am Dreieichpark. Das konnte nicht gut gehen, und in der Tat folgte der nächste Umzug bereits 1938, in das ehemalige Hospital mit der Adresse Kaiserstraße 18.
Der 1858 fertig gestellte und zuletzt als Schule genutzte Bau überstand den Bombenkrieg, der die meisten Verwaltungsgebäude auslöschte. Und das machte ihn wertvoll für die Stadtverwaltung. 1950 wurde er Sitz des Magistrats, ein provisorisches Rathaus. die Bücherei verdrängte das in einem Hinterhof an der Bismarckstraße.
Es war ein Provisorium mit geschrumpftem Bücherbestand. Die Ausleihe erfolgte über einen schmalen Tisch, den man in eine Türöffnung schob. Doch schon 1952 ist als Jahr der Befreiung zu nennen, als Beginn des Wegs in die Gegenwart. Die Stadtbücherei konnte an Herrnstraße und Linsenberg einen der beiden Flügel- und Kopfbauten des zerstörten Büsingpalais beziehen, als Nachbar des Klingspor Museums. Offenbach siedelte Kultur wieder dort an, wo sie sich konzentriert hatte vom 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Verknüpfung der Namen Geothe, Bernard, André, Senefelder und La Roche.
Im Zusammenwirken des Kulturdezernenten Dr. Hermann Maß und des Stadtbaurats Adolf Bayer entstand etwas Wegweisendes: Deutschlands erste Freihandbücherei, dem Besucher frei wählenden Zugriff zum Buch gewährend. Ihre Gestaltung zog Pilgerzüge von Architekten und Bibliotheksmenschen nach Offenbach. Im November 1953 schaute sich Bundespräsident Theodor Heuss den viel besprochenen Bau an.
Die turmartige Gestaltung des Inneren legte den Namen Bücherturm nahe. Als erster soll ihn der Bibliotheksleiter Ernst Buchholz benutzt haben. Auch durch sein Bemühen wurde der Bücherturm zu einer festen Adresse des Kulturlebens. Konzert und Vortrag sind dort zu Hause, das Heitere und das Besinnliche, die Autorenlesung natürlich. Und stets sind die Bücher dabei.
Von Lothar R. Braun
Veröffentlicht in der Offenbach Post