1911: Turner pflanzen Jahn-Eiche
Dieser Baum hat Persönlichkeit, und er sieht aus, als sei er sich dessen bewusst. Weit ausgreifend markiert seine wohlgeformte Krone den Punkt, an dem die Gutenbergstraße den Starkenburgring trifft. Die Stileiche ist eines der geschützten Naturdenkmäler in Offenbach. Sie hat einen Namen, wie sich das gehört. Sie heißt Jahn-Eiche. Und im Jahr 2011 hatte sie Geburtstag, falls man das von einem Baum so sagen darf.
Offenbacher Turner haben den Baum im Jahr 1911 gepflanzt. Die Inschrift auf einem niedrigen Stein neben seinem Stamm zeigt es an: „Zur Erinnerung an die Eröffnung des ersten deutschen Turnplatzes in der Hasenheide in Berlin 1811 – 19. Juni – 1911“. Der Baumpflanzung vorangegangen war ein Schauturnen auf dem Bieberer Berg, an dem sich alle Offenbacher und Bürgeler Turnvereine beteiligten. In einer Festsitzung schlossen sich die Vereine dann zu einer „Offenbacher Turnerschaft“ zusammen, „zur Wahrung aller turnerischen Interessen“.
In der Rivalität mit den damals jungen Strömungen, die heute allgemein als Sport bezeichnet werden, lehnten sich die meisten Turner damals eng an die Traditionen an, die der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), die charismatische Führerfigur von der Hasenheide, begründet hatte. Jahn sah in der Turnbewegung mehr als nur die leibliche Ertüchtigung. Ihm war das Turnen auch ein Beitrag zunächst zur Befreiung vom napoleonischen Joch, dann zur Vereinigung der deutschen Klein- und Mittelstaaten in einem freiheitlich verfassten System. Turnen war ein Politikum.
Die Turner verstanden sich als Patrioten. An der Jahn-Eiche sollte das noch einmal zelebriert werden. Am Abend des 10. August 1928 wurde dort der 150. Geburtstag des „Turnvaters“ Jahn gefeiert. Davon ist ein zweiter Stein am Fuß der Eiche geblieben, ein Findling in der Form einer Pyramide. Offenbacher Turner hatten ihn aus dem Taunus herangeschafft und aufgestellt zum Gedenken an die 211 im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder ihrer Vereine.
Seine Enthüllung wurde eine Feier, die die Teilnehmer als erhebend empfanden. Fahnen wehten. Oberbürgermeister Granzin sprach. Gustav Dambruch, der Vorsitzende der Turnerschaft, hielt eine Rede. Die Stadtkapelle stimmte „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ an, die Turnersänger sangen; ein Fackelzug formierte sich zum Marsch in die TGO-Halle an der Sprendlinger Landstraße, wo man weiter feierte.
Von alledem erzählt der Findling heute nichts mehr. Die Metallplakette zu Ehren der Toten, ist schon seit Jahren verschwunden. Wo sie befestigt war, zeigt der Stein Narben. Er wäre nur noch ein stummes Denkmal für die Flüchtigkeit jeder Erinnerung, gäbe es nicht über ihm das grüne Dach einer Eiche, für die hundert und zweihundert Jahre nicht viel sind.
Lothar R. Braun