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Stadt Offenbach

1903: Unterm Wohnblock viel Geschichte - Erinnerung an eine verschwundene Klinik

Frankfurter Straße 122, vis-a-vis vom Deutschen Wetterdienst: Den Blick fangen wuchtige Wohnblocks, deren Gesicht sich allerdings nicht einprägt. 1877 steht dort in einem großen Park die Villa des Fabrikanten Carl Theodor Wecker, errichtet im Stil des französischen Barocks, mit einem Türmchen auf dem Dach.

Am Abend des 3. Oktober 1877 strömen die Offenbacher dorthin, um einem der Großen ihrer Zeit zu huldigen. In der Villa des Kommerzienrats ist mit seinen Adjutanten der Generalfeldmarschall Helmut von Moltke abgestiegen, der Schlachtensieger von 1864, 1866 und 1870/71. Den nächsten Volksauflauf erlebt das Anwesen im Jahr darauf. Wecker ist Gastgeber einer chinesischen Delegation, der in Offenbach heimische Industrieerzeugnisse vorgeführt werden. Nicht deshalb aber bleibt das Anwesen Frankfurter Straße 122 im kollektiven Gedächtnis haften, sondern als Frauenklinik, in der Generationen von Offenbachern ihren ersten Schrei ausstießen.

Die „Greinsche Klinik“ war das für die Älteren, die „Klinik Dr. Rauh“ für die Nachkriegs-Generation. Bei den vermögenden Patientinnen, die aus dem Orient, aus England und den USA zur Entbindung kamen, wird sie wohl „diese entzückende Klinik in Offenbach“ gewesen sein. 1903 hatte der Sanitätsrat Dr. Grein die Villa samt Parkgrundstück erworben und den Umbau zu einer Klinik eingeleitet. Grein stammte aus Darmstadt und hatte einige Jahre als Schiffsarzt im Dienst des Norddeutschen Lloyd gestanden.

Dr. Ernst Grein

Vom Architekten Hugo Eberhardt, dem späteren Gründer des Deutschen Ledermuseums, ließ er einen dreigeschossigen Terrassenanbau mit Säulenschmuck anfügen. 1905 wurde eröffnet. 1911 erweiterte Grein um eine Abteilung für chirurgische Gynäkologie. Unter Leitung des Offenbacher Chirurgen Dr. Kreckel konnte sie den weiteren Aufschwung beflügeln.

Im Ersten Weltkrieg allerdings wurde die Frauenklinik zum Lazarett, und im zweiten Krieg war der Sanitätsrat ein alter Herr geworden. Zeitweilig war er während des Krieges der einzige Operateur in seinem Haus. Sein Leben endete am 21. Dezember 1943, einen Tag nachdem Bomben das Haus zerrissen hatten. In dem einzigen Zimmer, das noch nutzbar war, erlag Grein einer Lungenentzündung, die er sich bei einem früheren Luftangriff zugezogen hatte. Ein paar Wochen danach brannten auch noch die Reste des Hauses aus.

Familie Dr. Grein

Die Neuzeit begann mit Dr. Alfred Rauh, der 1946 als Assistenzarzt ans Offenbacher Stadtkrankenhaus gekommen war und sich durch Heirat mit der Tochter des Pelzhändlers Günzel an Offenbach gebunden hatte. Rauh erwarb die Ruine samt Park 1947 von den Erben des Sanitätsrats. Er ließ räumen und bauen. Dabei konnte die alte Fassade der Wecker-Villa erhalten bleiben. Am 1. Mai 1949 war die Klinik wieder intakt. Aus der Ruine war eine der modernsten Kliniken geworden.

Die Presse sprach von einem „Aushängeschild der Stadt“, und die zuvor skeptischen Fachleute bestaunten die Rentabilität eines 60-Betten-Hauses. Doch 1972 wurde die Klinik geschlossen. Rauh hatte gesundheitliche Probleme und privatisierte fortan in der Schweiz. Ein Hanauer Bauunternehmer erwarb das Anwesen und bebaute es mit Eigentumswohnungen. Dem alten Baumbestand im Park ist das nicht gut bekommen. Und seitdem erinnert nichts mehr an die Geschichte des Anwesens.

Postkarte Klinik Dr. Rauh

Bereits vergessen war da die Vorgeschichte des Standorts, der um 1800 noch als Biblismühle, auch als Biebelsmühle bekannt war. Sie hat Ölfrüchte vermahlen, gehörte zeitweise dem Frankfurter Bankier Moritz von Bethmann und war von 1807 bis 1837 vom einst mächtigen fürstlich-isenburgischen Minister Goldner bewohnt. 1865 erwarb der Kommerzienrat Wecker die alte Mühle neben seiner Fahrzeugfabrik Dick & Kirschten, bei der schon Napoleon I. einst eine Kutsche kaufte. Die Wohnblocks an der Frankfurter Straße verdecken viel Geschichte

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