1999: Streichholzkarlchen wird Denkmal
Das Streichholzkarlche steht. Lebensgroß, mit freundlichen Augen und lächelnd auf verschmitzte Weise. Lebensfähig freilich ist der wiedererstandene „Holzhändler“ Karl Winterkorn nicht. Bis die Figur des Alt-Offenbacher Originals auf dem Wilhelmsplatz aufgestellt werden kann, wird noch einige Zeit vergehen. Steinmetz-Meisterin Judith Quartier hat die Figur geschaffen, wie Urvater Adam geschaffen worden sein soll: aus Ton. Wenn die Schöpferin ihren Winterkorn zeigen will, muss sie ihn aus feuchten Tüchern und Plastikhüllen schälen.
In der schützenden Verkleidung wartet er darauf, mit Gips beworfen zu werden, der dann zur Negativform erstarrt, die wiederum mit anderem Gips ausgegossen werden kann. dies erst ergibt das formfeste Positiv-Modell, das die Meisterin mit Hammer und Meißel maßgenau in Kalkstein umsetzt. So ein Denkmal muss, bevor es aufgestellt werden kann, dreimal geschaffen werden: in Ton, in Gips, in Stein. Wobei das erste Stadium wohl das schwierigste ist. Dem tönernen Karl hat Judith Quartier ein Skelett aus Eisenrohren und Kupferstangen gebaut. Den Leib füllte sie mit Styropor. Schon dabei mussten Maße und Proportionen stimmen, doch erst danach begann die Feinarbeit mit 130 Kilogramm Ton.
Nackt wie ein Frosch musste es sich der tönerne Karl gefallen lassen, dass an seinen Körper hand angelegt, dass immer wieder gemessen und korrigiert worden sit. Einmal hat ihm die Bildhauerin sogar den Kopf abgeschlagen, weil die Proportion nicht stimmte. Kopf und Körper stehen beim Normalgewachsenen im Verhältnis von 1:8. Beim kurz gewachsenen Karl waren es 1:6.
Sie zog ihm die Hose an, zunächst am rechten Bein. Dort erhielt er den ersten Schuh. Als die Hose saß, folgte die Jacke mit ihren Faltenbildern und den Knöpfen. Die Mütze setzte sie ihm erst auf, als Gesicht und Doppelkinn keiner Korrektur mehr bedurften. Judith Quartier hat den Streichholz-Karl angekleidet wie eine Mutter ihr Kind. Freilich immer in strenger Anlehnung an das Original.
Bei der Arbeit hat sie stets eine Wand mit Fotos vor Augen. sie zeigen Karl Winter-korn in unterschiedlichen Lebensaltern und Haltungen.
Der kleine Mann, den der ambulante Verkauf von Streichhölzern nährte, war in den 2023 und 30erJahren einer der populärsten Offenbachern. Wer spott mit ihm trieb, blieb ihm Respekt nicht schuldig. Als ihm zum 50 Geburtstag die Offenbacher Stadt-kapelle vor der Wohnung in der Gerberstraße ein Ständchen brachte, hatte das et-was von einer Huldigung. Er galt nun mal als liebenswerter Kerl.
Eine Gruppe engagierter Bürger will die Erinnerung an ihn erhalten – durch ein Denkmal auf dem Wilhelmsplatz mit seinem Wochenmarkt. Als Stadtschmuck, der Erinnerung halber und um der Offenbacher Identität willen. die erforderlichen Mittel werden durch eigene Beiträge der Initiatoren, durch Spenden und Aktionen aufgebracht, die jedem das Mithelfen ermöglichen.
In Judith Quartier fand diese Bürgerinitiative eine Steinmetzin,, deren Gestaltungskraft schon öffentliche Anerkennung erfahren hat. Eine ihrer Abreiten, eine zwei Meter lange Schnecke aus Sandstein, steht vor der Grundschule der elsässischen Vogesengemeinde Le Hohwald.
von Lothar Braun 16.03.1999