Hugenottische Einwanderer bewirken Offenbacher Wirtschaftswunder
Ende des 17. Jahrhunderts ist Offenbach ein Bauern- und Fischerdorf, das unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges leidet. Daher gründet Offenbachs Geschichte im 18. Jahrhundert auf Zuwanderung. Die liberale Einwanderungspolitik des isenburgischen Grafen Johann Philipp sorgt für einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung.
1698/99 nimmt Graf Johann Philipp, selbst bekennender Calvinist, hugenottische Glaubensflüchtlinge auf. Die französisch-reformierte Gemeinde gründet sich, deren Kirche 1718 in der Herrnstraße fertig gestellt wird.
Bereits 1705 erhalten die Hugenotten weitreichende Privilegien, darunter Gewerbefreiheit und die Befreiung von Abgaben für die Dauer von zehn Jahren. Bis 1824 bilden die sogenannte „Altgemeinde“, der dörfliche Ortskern rund um das Isenburger Schloss, sowie die Neugemeinde, die neuen bürgerlichen Siedlungen am Ortsrand, getrennte Verwaltungseinheiten.
Mit den Hugenotten halten neue Handwerksberufe in Offenbach Einzug. Die Isenburger fördern die Gründung von Manufakturen, Grundlage einer raschen Industrialisierung im 19. Jahrhundert.
46 Familien begründen die französisch-reformierte Gemeinde
Ursache der hugenottischen Flüchtlingsströme Ende des 17. Jahrhunderts ist das Edikt von Fontainebleau (1685). Die katholische Regierung Frankreichs eröffnet damit eine grausame Jagd auf alle protestantischen Untertanen, die sich zu den Lehren Calvins bekennen. Man nennt sie Hugenotten, was wohl auf den Begriff „eyguenet“ (Eidgenosse) zurückgeht.
Calvins Reformationsbewegung hat in Genf ihren Anfang genommen. Nach Schätzungen werden bis zu 500.000 Hugenotten aus Frankreich vertrieben. Sie finden in vielen Gebieten Deutschlands Aufnahme, so auch 1698/99 in der Grafschaft Isenburg.
Im Jahr 1699 erfolgt die Gründung der französischreformierten Gemeinde. Die erste bekannte Gemeindeliste nennt 46 Familien. In Offenbach treffen im Jahr 1703 weitere handwerklich ausgebildete Hugenotten ein: Wollfabrikanten, Strumpfweber, Seidenweber, Leinweber, Hutmacher, Posamentierer, Perückenmacher, Knopfmacher, Gerber, Gießer, Goldwirker, Goldarbeiter und Färber.
Graf Johann Philipp von Isenburg, der in jener Zeit auch die Gründung der jüdischen Gemeinde ermöglicht, erteilt der französisch-reformierten Gemeinde am 28. Mai 1705 umfangreiche Privilegien.
Sie zielen darauf ab, den Gewerbefleiß der neuen Einwohner zu fördern. Gilt doch in deren Glauben Trägheit als Sünde, während alle Arbeit zur Ehre Gottes geschieht. Im 18. Jahrhundert ist vor allem die Offenbacher Textilherstellung und -verarbeitung ein hugenottisches Metier.
Herausragend ist etwa die Familie André, deren Mitglieder neben der Gründung des berühmten Musikverlages mit Notendruckerei (1774) auch in der Färberei und Seidenweberei tätig sind.
Erst während der napoleonischen Kriege erlebt das hugenottische Textilgewerbe einen Niedergang. Familien wie die Andrés und die d´Orvilles, gemeinsam mit den Bernards Teilhaber einer florierenden Tabakfabrik, sind prägend für das wirtschaftliche und kulturelle Leben im Offenbach der Goethezeit.
Wappen der Gemeinde erinnert an eine dramatische Flucht
Mit der zweiten Siedlungswelle ist der Fortbestand der Gemeinde gesichert. 1717 wird der Grundstein zu einer eigenen, am 1. Mai 1718 eröffneten Kirche gelegt, der französisch-reformierten Kirche in der unteren Herrnstraße. Sie dient als Versammlungsraum, um Gottes Wort zu hören, zu beten und das Abendmahl zu feiern. Ihr Innenraum ist äußerst schlicht gehalten. Die einstmals ebenso schlichte Fassade erhält erst im Jahr 1874/75 ihre aufwendigere neobarocke Gestalt.
Das Pfarrhaus in der Herrnstraße gelangt 1775 als Vermächtnis der Pfarrerswitwe Anna Maria Romagnac in den Besitz der Gemeinde. Mit der Zuwanderung der Hugenotten sind in Offenbach, ähnlich wie in Hanau, eine Alt- und eine Neugemeinde entstanden.
Erst am 1. Januar 1824 werden beide Teile rechtlich zu einer einzigen Stadtverwaltung vereint. Mit Peter Georg d’Orville wird der Nachfahre einer hugenottischen Einwandererfamilie erster, damals noch ehrenamtlicher, Bürgermeister.
Zu diesem Zeitpunkt sind die Hugenotten längst in der heimischen Bevölkerung aufgegangen. Der letzte französischsprachige Gottesdienst wird 1828 gefeiert. 1830 führt die städtische Verwaltung das allgemeine Volksschulsystem ein. Nahezu zeitgleich hört die 1750 gegründete Konfessionsschule der Gemeinde auf zu bestehen.
Seither liegt der Akzent der französisch-reformierten Gemeinde weniger auf dem Verständnis als französische, sondern auf dem Dasein als reformierte Gemeinde. Dennoch sind im kirchlichen Leben, besonders im Psalmengesang, in den Abendmahlsbräuchen oder in der Bildlosigkeit des Gotteshauses, aber auch in der Verwaltung der Gemeinde durch ein Presbyterium (Kirchenvorstand), viele hugenottische Traditionen erhalten geblieben.
Das Bibelwort steht im Mittelpunkt
Die zentrale Position der Kanzel verdeutlicht, dass das Bibelwort im Mittelpunkt des Gottesdienstes und des Gemeindelebens steht.
Die moderne Gemeinde zählt rund 230 Mitglieder, wobei deren Zahl seit Gründung der Gemeinde stets mit wenigen Hunderten zu bemessen war. Unter den Mitgliedern sind noch vier bis fünf französische Namen.
Das Wappen im Kirchenraum – eine Kopie des im Zweiten Weltkrieg verbrannten Originals – verdeutlicht die Gemütsverfassung der einstigen Glaubensflüchtlinge: „Domine serva nos perimus“ (Herr, rette uns, wir gehen zu Grunde). Im Gegensatz zu anderen ist die französisch-reformierte Gemeinde keine Wohnsitz-, sondern eine Bekenntnisgemeinde mit einem Einzugsbereich über die Offenbacher Stadtgrenzen hinaus. Das Kirchlein behauptet sich heute an zentralem Standort gemeinsam mit dem 2009 umfassend sanierten Pfarrhaus gegen die moderne Büroarchitektur in seiner Umgebung.