Gedenkstein als Mahnung gegen Rassismus
Mit gerade 17 Jahren starb Ilona Ausch in Walldorf. Ihre Todesursache ist nicht bekannt, es liegt aber nahe, dass sie an Unterernährung, Krankheit und Erschöpfung starb oder getötet wurde: Sie ist auf dem Neuen Friedhof in Offenbach bestattet – in einer Grabreihe mit fünf weiteren Frauen, die in der Außenstelle Walldorf des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof im Elsass ums Leben kamen.
Vom 23. August bis 24. November 1944 waren hier 1700 Ungarinnen jüdischen Glaubens unter furchtbaren Bedingungen inhaftiert. Sie mussten auf dem Rollfeld am Flug- und Luftschiffhafen Rhein-Main, der damals unter militärischer Hoheit stand, Zwangsarbeit leisten. Die sechs in Offenbach bestatteten Frauen erhalten nun einen Gedenkstein. Die Initiative dazu geht aus von der Margit-Horváth-Stiftung in Mörfelden-Walldorf.
Friedhöfe auch Zeugen der Geschichte

„Gerade hier in Offenbach, wo Menschen aus rund 160 Nationen zusammenleben, hat das Gedenken an diese Toten einen hohen Stellenwert“, sagt Bürgermeister Peter Schneider. „Die auf dem Gräberfeld für Zwangsarbeiter bestatteten Menschen wurden meist aus anderen Ländern nach Offenbach verschleppt und haben diese Tortur nicht überlebt. An das ihnen angetane Unrecht erinnert bereits ein Gedenkstein im Eingangsbereich des Friedhofs. Wir sind dankbar, dass es jetzt einen weiteren Gedenkstein gibt, der nicht nur den hier bestatteten jüdischen Frauen aus Ungarn ihren richtigen Namen in korrekter Schreibweise zurückgibt, sondern auch dazu mahnt, dem Rassismus keinen Raum zu bieten.“
Friedhöfe seien auch Zeugen der Geschichte, sagt Christian Loose, stellvertretender Leiter des Eigenbetriebs der Stadt Offenbach, der auch für die städtischen Friedhöfe zuständig ist. Ganz besonders treffe dies auf das Gräberfeld zu, in dem auch die sechs Ungarinnen liegen. Es sei eigens für Menschen angelegt worden, die die Zwangsarbeit in Offenbach nicht überlebten. „89 Grabplatten sehen wir, wissen aber nicht, wie viele Menschen darüber hinaus hier tatsächlich anonym begraben wurden. Deshalb steht für sie der Gedenkstein am Friedhofseingang. Wir begrüßen, dass nun die Horváth-Stiftung auch auf das Schicksal der sechs jüdischen Frauen aufmerksam macht, die in Walldorf ums Leben kamen.“
Unter Nazi-Regime rund 6000 Zwangsarbeiter in Offenbacher Industrie
„Bevor uns Cornelia Rühlig von der Horváth-Stiftung kontaktiert hat, haben wir angenommen, dass alle hier bestatteten Menschen als Zwangsarbeiter in Offenbach starben“, erzählt Gabriele Schreiber, Leiterin der städtischen Friedhöfe Offenbach. Es war bekannt, dass es für diese Menschen Baracken zum Beispiel Im Eschig gab, in denen 150 Russen und Polen gefangen waren. 37 größere und kleinere Lager waren über die Stadt verteilt. Rund 6000 Gefangene mussten während des Nazi-Regimes in der Offenbacher Industrie Zwangsarbeit verrichten. „Es hat mich persönlich sehr bewegt, wie viele Frauen darunter waren.“
Cornelia Rühlig, Vorstandsvorsitzende der Margit-Horváth-Stiftung, arbeitet auch als Leiterin des Museums von Mörfelden-Walldorf die Geschichte des Lagers auf und versucht die Biografien der dort inhaftierten Frauen zu recherchieren. In den Akten aus der NS-Zeit waren die Leichentransporte der Frauen nach Offenbach verzeichnet. „Die Lagerführung wollte offenbar in Walldorf keine Gespräche über den Tod dieser jungen Frauen, deshalb wurden sie wohl nicht auf dem örtlichen Friedhof beerdigt“, sagt Rühlig.
Steinmetz Marc Klüber gab Anstoß für Gedenkstein
Gedenkstein erinnert an sechs ermordete Jüdinnen
Der Gedenkstein erinnert an Ilona Ausch aus Paks, gestorben mit 17 Jahren, Elza Böhm aus Budapest, geboren in Pápa, gestorben mit 40 Jahren, Helén Davidovics, gestorben mit 36 Jahren, Jolán Freifeld, aus Rákosszentmihály /heute ein Teil von Budapest gestorben mit 40 Jahren, Piri Kleinmann, gestorben mit 18 Jahren, Janka Sámuel aus Ujpest, heute ein Teil von Budapest, gestorben mit 40 Jahren.
Die Namen stehen teilweise in anderer, nicht richtiger Schreibweise auf den eigentlichen Grabplatten und wurden auf dem Gedenkstein nach Recherche der Margit-Horváth-Stiftung korrigiert.
Die Inschrift lautet:
Die Grabsteine dieser sechs Frauen erinnern an die Ermordung von sechs Millionen Juden. Auch diese sechs ungarischen Jüdinnen wollten – wie wir alle – als Bürgerinnen ein friedliches Leben führen.
Doch sie wurden mit ihren Familien aus den Elternhäusern vertrieben, nach Auschwitz-Birkenau deportiert und im Herbst 1944 als Häftlinge der KZ Außenstelle in Mörfelden-Walldorf ermordet.
Wir gedenken ihrer von Herzen.
Ihr Tod ist uns Mahnung heute wachsam zu sein und
uns zu engagieren gegen jede Form von Rassismus.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“*
*Artikel 1 Grundgesetz
08.11.2017
Die Schicksale der Frauen
Augenzeugin hat von Mord berichtet
Es sind bewegende Geschichten, die Cornelia Rühlig über einige der Frauen recherchiert hat: Jolán Freifeld beispielsweise ist laut Leichentransportschein aus dem Lagerarchiv bereits am Ankunftstag im Lager mit 40 Jahren an Herz-Kreislauf-Schwäche gestorben.
Eine frühere Gefangene aus der KZ-Außenstelle erinnert sich aber an einen Mord, dessen Opfer aller Wahrscheinlichkeit nach Jolán Freifeld war: Rühlig hatte die Frau in Israel angerufen, um sie zur Eröffnung des historischen Lehrpfades rings um das ehemalige Lagergelände einzuladen. Da erzählte sie ihr, dass 1944 bereits am Ankunftstag im Lager eine etwa 40-jährige Frau von den Wachleuten erschossen wurde. Die vom langen Transport in einem völlig überfüllten Viehwaggon ohne Verpflegung oder Wasser bei großer Hitze mit anderen Frauen eingepferchte Gefangene war völlig erschöpft. Als sie sich beim langen Marsch vom Zug zum Lager an den Wegrand zum Ausruhen setzte, wurde sie von den Wachleuten exekutiert.
Dieses Erlebnis ging der Augenzeugin ganz besonders nahe, weil ihre ebenfalls inhaftierte Mutter sich auch dem Zusammenbruch nahe hinsetzen wollte, von ihrer Cousine und Tochter aber beim Weitergehen gestützt wurde und so dem Tod entkam.
Tochter erfuhr über Horváth-Stiftung vom Schicksal der Mutter
Die Tochter einer anderen Toten vom Offenbacher Neuen Friedhof erfuhr über die Horváth-Stiftung vom Schicksal der Mutter. Ein junger Ungar erkundigte sich 2005 nach Elza Böhm. Er erzählte, er habe im Flugzeug auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens neben einer älteren Frau gesessen, die während der Wartezeit heftiges Unwohlsein zeigte. Als er sich um sie kümmerte, erfuhr er, dass deren Mutter Elza Böhm für den Bau dieses Rollfelds gestorben sei.
Der in Wiesbaden arbeitende Mann ließ sich die Adresse geben und fragte beim Museum der Stadt Mörfelden-Walldorf nach. Elza Böhm, eine 43-jährige Pianistin aus Budapest, war dort bekannt, weil viele ehemalige Gefangene sich an sie als Helferin der Schwächsten erinnerten. Sie war in der Lagerküche eingesetzt und steckte den Kranken und besonders Schwachen wann immer sie konnte eine Extraportion zu. Dies kam der SS zu Ohren. Daraufhin wurde Böhm in dem berüchtigten Lagerkeller, in dem Inhaftierte mit Schlägen bestraft wurden, zu Tode geprügelt. Auch bei ihr lautete die offizielle Todesursache „Herzmuskel- und Kreislaufschwäche“.
Durch die Vermittlung ihrer Flugzeugbekanntschaft konnte die Tochter, die als 14-Jährige bei der Selektion in ein anderes Konzentrationslager gekommen war, erstmals auf Einladung der Stiftung das Grab ihrer Mutter in Offenbach besuchen.
Mindestens 41 Frauen kamen ums Leben
Über die Horváth-Stiftung
Margit Horváth war eine der KZ-Häftlinge und Überlebende der KZ-Außenstelle Walldorf. Nach ihrem Tod legte ihr Sohn Gabor Goldmann in Abstimmung mit der Stadt Mörfelden Walldorf mit dem an seine Mutter ausgezahlten sogenannten Entschädigungsgeld den Grundstock für eine Stiftung. Sie wurde nach Margit Horváth benannt und soll der Pflege und Förderung der menschlichen Grundwerte und Grundrechte dienen. Zielgruppe sind vor allem Jugendliche.
Vorsitzende der Stiftung ist Cornelia Rühlig. Die Leiterin des Museums von Mörfelden-Walldorf hat unter anderem einen historischen Lehrpfad rund um das Gelände des nach Kriegsende gesprengten Lagers angelegt. Heute ist dort ein Waldstück, das nach der Sprengung aufgeforstet wurde. Rühlig hatte hier zusammen mit Schüler und ehrenamtlichen Mitarbeitern die Reste des berüchtigten Kellers unter der Küchenbaracke entdeckt, in dem die Häftlinge misshandelt wurden. Einige wurden dort zu Tode geprügelt.
Seit 2005 organisierte Rühlig im Namen der Stiftung internationale work and study camps, bei denen die Grundmauern des Kellers ausgegraben wurden. Heute werden dessen Reste als Mahnmal durch das im Sommer 2016 eröffnete Margit-Horváth-Zentrum geschützt. In dem Tagungs- und Veranstaltungsort beschäftigen sich vor allem Jugendliche mit Fragen der gesellschaftlichen Diskriminierung von Minderheiten.