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Stadt Offenbach

Das 19. Jahrhundert bis zum deutschen Kaiserreich

Der Demokratenfresser von Leopold Nickelsberg

Demokratie und Zeitgeschichte von 1815 bis 1871

Das 19. Jahrhundert war, sowohl europaweit als auch auf den deutschen Raum bezogen, eine Zeit tiefer wirtschaftlicher und politischer Veränderungen: Industrialisierung und Massenverelendung einerseits, aber andererseits, auch ein allmähliches Wachsen des allgemeinen Wohlstandes sowie eine Politisierung breiterer Schichten sind kennzeichnend. Der erste deutsche Versuch einer Republik oder zumindest einer demokratischen Monarchie scheiterte zwar, anderseits erfolgte aber ein unaufhaltsamer Aufstieg der Arbeiterbewegung und eines demokratischen Bewusstseins, welcher in der Folge auch die kurzlebige Weimarer Republik hervorbrachte.

Demokratisch – revolutionäre Ansätze, die mit der Französischen Revolution von 1789 verbunden waren und weit über Frankreich hinaus auf Europa eingewirkt hatten, erschienen während des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig. Freiheitskämpfe, demokratisch- republikanische Gruppierungen und zum Teil offene Rebellionen standen auch in den deutschen Ländern auf der Tagesordnung. Die von politischen Aktivisten vertretenen Forderungen sahen jedoch nicht allein mehr Rechte für das Individuum im Sinne eines demokratischen Gleichheitsansatzes vor, sondern bezogen sich überdies zumeist auf die Schaffung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates. Vor diesem revolutionären Hintergrund muss neben den Unruhen der dreißiger Jahre und beispielsweise Georg Büchners „Hessischem Landboten“ auch das Vorparlament vom März 1848 und die – durch Wahl berufene – Nationalversammlung gesehen werden, die am 18. Mai 1848 feierlich in die Frankfurter Paulskirche eingezogen war.

Die eher konservativ – reformerische Linie des Vorparlaments und danach auch der Nationalversammlung veranlaßte Friedrich Hecker jedoch dazu, in Südbaden eine gewaltsame Revolution zu betreiben, die freilich scheiterte – Hecker gelang die Flucht in die USA.

Die parlamentarische Arbeit der Nationalversammlung ging indes nur schleppend voran. Die oftmals renommierten, in der parlamentarischen Arbeit jedoch unerfahrenen Abgeordneten mußten mühsam erst parlamentarische Spielregeln erlernen. So dauerte es beispielsweise eine gewisse Zeit, bis Fraktionen handlungsfähig waren. Endlose und zum Teil wenig ergiebige Debatten mochten dazu angetan sein, die Idee des Parlamentarismus nicht nur bei eher konservativen Abgeordneten, sondern auch bei manchen Zuschauern zu diskreditieren. So mag eine gewisse Erleichterung spürbar gewesen sein, als Heinrich von Gagern, der konservative Präsident der Versammlung, in „kühnem Griff“ einen„ Reichsverweser“ als mutmaßlichen Garanten einer Einheit der deutschen Staaten aus dem Erbe des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ vorschlug. Gewählt wurde der österreichische Erzherzog Johann, „nicht weil, sondern obgleich er ein Fürst ist“. Die Tatsache, daß der Reichsverweser nicht der Nationalversammlung, sondern lediglich den regierenden Landesfürsten verantwortlich war, verweist auf den eher fragwürdigen Demokratiecharakter dieser und anderer Entscheidungen.

Wesentliches Produkt der Nationalversammlung von 1848/49 waren die „Grundrechte des deutschen Volkes“, die auf vielen Ebenen durchaus einen progressiven Aspekt zeigten. Individualrechte und wesentliche Fortschritte gegenüber den bis dato herrschenden Verhältnissen machten den positiven Aspekt dieser Grundrechte aus. Allerdings wurden alle über die rechtliche Sicherung des Individuums hinausgehenden sozialreformerischen Ansätze von der Mehrheit der Versammlung nicht gebilligt. Obwohl das Massenelend der beginnenden industriellen Revolution, die in vielen Bereichen eine Entfremdung und Entwurzelung der unteren Schichten mit sich gebracht hatte, zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits voll erkennbar war, findet sich in den Grundrechten nichts über die Sozialverpflichtung des Eigentums oder über einen Anspruch auf soziale Sicherheit. Dieser Aspekt wurde damals von Arbeiter – und Gesellenvereinen wie auch durch entschiedene Demokraten kritisiert. Fragen zu sozialen Gegensätzen, die unter anderem eine tief greifende Spaltung der Nationalversammlung verursachen, blieben ungelöst.

Das reale Scheitern der Nationalversammlung erfolgte jedoch unter anderen Vorzeichen. Es offenbarte sich vor allem deren Unfähigkeit, zur aktuellen, um Schleswig – Holstein entbrannten Auseinandersetzung mit Dänemark gefaßte Parlamentsbeschlüsse umzusetzen. Die Nationalversammlung verfügte weder über eigene Truppen noch hatte sie Hoheitsgewalt über die Verbände der einzelnen deutschen Territorien. Vergleichbar den Vereinten Nationen, die in der Gegenwart bei ihren Blauhelm – Einsätzen auf den guten Willen derjenigen Nationen angewiesen sind, die diese Truppen stellen wollen, zeigte sich die Handlungsunfähigkeit des Parlaments an der Tatsache, daß etwa Preußen – trotz gegenteiliger Beschlußlage – einen Sonderfrieden mit Dänemark schloß.


Die Uneinigkeit über die Zukünftige Staatsform eines geeinten Deutschland ebenso wie letztlich das Scheitern der von einer Mehrheit angestrebten Monarchie, infolge einer Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm 4., ließen das Ansehen der Nationalversammlung nachhaltig sinken. In Frankfurt war es bereits im September 1848 zu revolutionären Unruhen gekommen. Als dieser Aufstand von preußischen und österreichischen Truppen niedergeschlagen worden war, wurde einerseits die Abhängigkeit des Parlaments von alten Mächten deutlich, anderseits war damit aber auch den parlamentsfeindlichen Territorialfürsten die Chance geboten, im eigenen Sinne tätig zu werden. Noch bevor der preußische König die Kaiserkrone abgelehnt hatte, wurden außerdem gegenrevolutionäre Offensiven in Wien und Berlin vollzogen, die der demokratischen Bewegung allgemein zum Verhängnis geworden sind. Erfolglose revolutionäre Erhebungen zur Gründung einer Republik in Südwestdeutschland wie auch die Flucht des demokratischen Rumpfparlaments nach Stuttgart und seine schließliche Auflösung kennzeichnen den weiteren Verlauf des Revolutionsjahres 1848/49, womit als Endergebnis keine politische Veränderung eintrat.


Infolge der gescheiterten Aufstände und einer daraus resultierenden Re– Etablierung reaktionärer Positionen der deutschen Staaten wurde die errungene Meinungs- und Pressefreiheit durch Zensur und Polizeispitzel erneut unterminiert.
Im Jahr 1851 hob der Deutsche Bund die „Grundrechte des deutschen Volkes“ wieder auf. Die Wiedereinsetzung des zuvor aufgelösten Deutschen Bundes – als Staatsverband reaktionärer Fürsten – durch Österreich und Preußen war ein weiterer Beleg für das Scheitern der neuen Ideen. Liberale, Demokraten und Sozialrevolutionäre wurden in der Folgezeit verhaftet und zu langjährigen Strafen verurteilt, alle verdächtigen Vereine verboten.

Als Folgen der Unterdrückung durch die alten Kräfte lassen sich Massenauswanderungen in die Schweiz, nach Großbritannien und vor allem auch in die Vereinigten Staaten ausmachen. Der Versuch einer konstitutionellen Reichsgründung durch das deutsche Volk war gescheitert; die spätere Gründung des wilhelminischen Kaiserreiches folgte anderen Gesetzmäßigkeiten. Veränderungen in den deutschen Territorien lassen sich nach 1848/49 auch Zusammenhang mit Entwicklungen im Bereich der Technologie feststellen. Zu Beginn der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts setzte in Deutschland parallel zu einem weltweiten wirtschaftlichen Aufschwung die eigentliche Phase der industriellen Revolution ein. Dabei waren Eisenbahnbau und Schwerindustrie die dominierenden Sparten. Etwa zeitgleich zum stetig wachsenden Schienennetz setzten sich in der Produktion Dampf – und Werkzeugmaschinen durch.

Die Bedienung dieser Maschinen war insofern einfach, als dazu keine langjährige Handwerksausbildung notwendig war – allerdings verbilligte sich damit auch die menschliche Arbeitskraft. Die in den Fabriken eingesetzten Arbeiter rekrutierten sich zu einem Großteil aus den niedergehenden Zweigen des Handwerks, vor allem aber auch aus ostdeutschem Landarbeiterproletariat. Verbunden mit diesen Entwicklungen war eine Landflucht in die großen Industriezentren. Notwendige Investitionen waren in den Fabriken kaum mehr durch familiäres Stammkapital zu bewältigen, infolge des industriellen Fortschritts war somit auch ein Aufstieg von Großbanken und Aktiengesellschaften zu beobachten.

Bemerkenswert erscheint vor allem der Umstand, dass die Lage der Industriearbeiter sich keineswegs durch günstigere konjunkturelle Daten verbesserte. Vor allem die Wohnverhältnisse der in Industriestädte gezogenen Proletarier bleiben menschenunwürdig. An der Peripherie Berlins beispielsweise entstanden Arbeiterquartiere, in denen im Schnitt pro Zimmer sechs bis sieben Personen leben mussten. Der 18 – Stunden – Tag, Löhne am Rande des Existenzminimums sowie Kinderarbeit steigerten das Elend der Industriearbeiter noch mehr.

Diese Verelendung zwang in verschiedener Weise zu Stellungnahmen, die in der Gründung politischer Parteien mündeten. Vor allem ist die Sozialdemokratie zu nennen, die – aus verschiedenen lokalen Quellen gespeist – schließlich in dem von Ferdinand Lassalle dominierten, eher reformerisch orientierten „Allgemeinen Deutschen Arbeitverein“ und der eher marxistischen „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht zwei größere Organisationen aufwies. Im Jahr 1875 vereinigten sich beide konkurrierenden Gruppierungen in Gotha zu einer einheitlichen deutschen Arbeiterpartei. Diese „Sozialistische Arbeiterpartei“ gründete sich 1890 als „Sozialdemokratische Partei Deutschland“ neu.

Unter anderen Vorzeichen kämpften konservative Gruppierungen gegen die Folgen der industriellen Revolution, die sie als gegen die göttliche Ordnung verstoßende Entwicklung verstanden. Aus derlei Beweggründen handelnd, war es in erster Linie der Kampf gegen ein Rechte einforderndes, liberalen Gruppierungen schließlich waren mit ihren Forderungen nach Rechtssicherheit und individuellen Freiheiten bereits im Kontext der Deutschen Nationalversammlung von 1848/49 auf den Plan getreten, verfolgten diese Ziele jedoch in der Zeit vor und nach der Reichseinigung von 1871 weiter. Zwar durch fortschrittliche Forderungen gekennzeichnet, wiesen die liberalen Positionen jedoch eine gegenüber dem Arbeiterelend weitgehend gleichgültige Haltung auf: Die Sorge um das soziale Wohl erschien weiterhin in die Hände des Individuums gelegt.

Jene Entwicklungen wurden begleitet durch ein immer deutlicher erkennbares Aufstreben Preußens innerhalb der deutschen Staaten. Mit dem 1864 erfolgten Krieg gegen Dänemark, einer Fortsetzung des Konfliktes von 1848 um Schleswig – Holstein, und dann vor allem mit dem „innerdeutschen preußisch – österreichischen Krieg“ von 1866 waren die Weichen für eine preußische Dominanz in Deutschland gestellt. Mit der Annexion weiter Teile des Rheingebietes, aber auch der Freien Stadt Frankfurt, Sitz des Deutschen Bundes und selbstverständlich auch als früherer Tagungsort der Nationalversammlung eine symbolisch kaum zu überschätzende Bedeutung besaß, wurde Preußen endgültig zum mächtigsten deutschen Staat. Der deutsche – französische Krieg von 1870/71 und die in Versailles vollzogene Reichsgründung waren als Konsequenz die weiteren, wichtigsten Ereignisse des preußischen Aufstiegs

Offenbach im 19. Jahrhundert

Politische Veränderungen und Demokratiebewegung

Nach der Niederlage Napoleons und der mit ihm verbündeten Rheinbundfürsten wechselten auch die Regierungsverhältnisse in Offenbach. Das Amt Offenbach ging aus isenburgischem Besitz im Jahr 1815 zunächst in österreichische Regierungsgewalt über und wurde schließlich 1816 dem Großherzogtum Hessen – Darmstadt zugeschlagen. Das Schloss verblieb bei den isenburgischen Fürsten, die – beispielsweise auch weiterhin bei der Besetzung der französisch – reformierten Pfarrstelle – ihr Mitsprachrecht behielten. Der hessen – darmstädtischen Regierung war eine liberale Grundtendenz eigen, womit in Offenbach – in Fortsetzung der isenburgischen Ausrichtungen des 18. Jahrhunderts – fortschrittliche Idee weiterhin auf fruchtbaren Boden fielen.
Das 19. Jahrhundert war allgemein durch eine Reihe von Neuerungen auf wirtschaftlicher, aber eben auch auf demokratisch – politischer Ebene geprägt, die sich vor allem mit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und der vorausgehenden Epoche, dem Vormärz, verbinden lassen. In diese unruhige Zeit fiel auch der „Hessische Landbote“ Georg Büchners, der – 1834 in Offenbach gedruckt – trotz seines beschaulich wirkenden Titels nichts anderes als „Friede den Hütten“ und „Krieg den Palästen“ zu bringen trachtete.

So wurde auch in Offenbach, als Industrie – und Gewerbestadt „reformanfällig“, ein neuer Geist manifest. Am 5. März 1848 fand eine Bürgerversammlung statt, die als Reaktion auf die Pariser Februar – Unruhen gedeutet werden kann. Eine Delegation unter Führung von Joseph Pirazzi und Salomon Stern trug am 6. März 1848 in der Residenzstadt Darmstadt die Offenbacher Forderungen vor, woraufhin eine freiheitliche Verfassung für das Großherzogtum Hessen – Darmstadt erlassen wurde. Bei ihrer Rückkehr einen Tag später wurde die Offenbacher Delegation mit Begeisterungsstürmen empfangen.
Der am 6. März zum Offenbacher Ehrenbürger ernannte Dr. Lorenz Diefenbach wurde Delegierter für das Vorparlament. Am 19. März, anlässlich eines liberalen Volksfestes für „Freiheit, Einheit und Brüderlichkeit“, hielt Diefenbach für die angeblich 15.000 Teilnehmer eine flammende Rede: „Der große Baumeister des Volkstempels ist kein anderer als der Volksgeist selbst, der Geist und die vereinigte Kraft des deutschen Volkes. Nur unter diesem Baumeister wollen wir Gesellen arbeiten, nicht nach französischen, auch nicht nach nordamerikanischen Bauplänen, am wenigsten nach dem Grundriß des Winterpalastes zu St. Petersburg!“

Im Zuge dieses demokratisch – revolutionären Aufbruchs ist es verständlich, dass auch der spätere Paulskirchen – Abgeordnete Robert Blum anlässlich einer Rede frenetisch gefeiert wurde. In jene politische Stimmungslage fiel auch die Gründung eines „Arbeiterbildungsvereins“ im April 1848. Allerdings waren – ungefähr seit den Pfingsttagen des Jahres – auch Schattenseiten der Revolutionen in Offenbach spürbar: Unruhen, die teils gewaltsam erstickt wurden, dazu die Teilnahme auch Offenbacher Bürger am Frankfurter Aufstand des 18. September 1848, schließlich das Scheitern der parlamentarischen Bewegung 1849. Die reaktionären Kräfte triumphierten: Theodor Reh etwa, der Offenbacher Abgeordnete der Nationalversammlung, zog nicht von Frankfurt nach Stuttgart zum verbliebenen Rumpfparlament; die vom „Vaterländischen Verein“ initiierte „Offenbacher Freischar“, welche die Beschlüsse der Nationalversammlung mit umsetzen sollte, verschwand relativ rasch in der allgemeinen Bürgerwehr. Das Offenbacher Regiment nahm sogar an der Zerschlagung der letzten Aufstände in Baden und in der Pfalz teil. In diese Entwicklung passte sehr gut, dass der „ revolutionäre Elan“der Offenbacher erlahmte und ihre revolutionär-demokratischen Vereine sich wieder auflösten. Einzig langlebiges Ergebnis dieser Unruhezeit war der „Arbeiterbildungsverein“, der in der Folgezeit sowohl die allgemeine als auch die politische Bildung der Arbeiter zu fördern suche.

In die Epoche der revolutionären Umwälzungen gehört im weitesten Sinne auch der Aufstieg Offenbachs zur Industriestadt. Forciert wurde diese Entwicklung durch die erwähnte Tatsache, dass die Stadt im Jahr 1816 – nach dem Wiener Kongress – dem Großherzogtum Hessen – Darmstadt angegliedert worden war. Einerseits waren damit wichtige verkehrspolitische Entscheidungen verbunden, da eine eigene Offenbacher Brücke den Frankfurter Zoll umgehen sollte, andererseits wurden nun auch die Rahmenbedingungen für eine Industrialisierung geschaffen. Die hessen – darmstädtische Regierung sah in Offenbach die bedeutendste Gewerbestadt des Landes, die sie in jener Phase der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung nach Kräften zu fördern suchte. Offenbach wurde damit in eine Reihe funktional definierter hessen – darmstädtischer Zentren einbezogen: Residenzstadt Darmstadt, Handels – und Bischofsstadt Mainz, Universitätsstadt Gießen und Industriestadt Offenbach. Im Parlament des konstitutionellen Großherzogtums saß der Fabrikant Philipp Casimir Krafft als erster Abgeordneter aus Offenbach. Damit war der Beginn einer liberalen Wahltradition in Offenbach begründet. Arbeiter und kleine Handwerker folgten über einen längeren Zeitraum mehrheitlich den Empfehlungen der Fabrikanten, erst einige Jahre vor der Jahrhundertwende änderte sich diese Einstellung zugunsten der Sozialdemokratie.

Die Industrialisierung

Das Großherzogtum war ein weitgehend agrarisch geprägter Flächenstaat, der jedoch auch über einige verstreute Textilproduktionsstätten verfügte. Die größte Industriestadt Hessen – Darmstadts war aber nunmehr Offenbach, das durch seine Lage am Main und vor allem die Nähe zu Frankfurt und dessen Messe eine herausragende Position einzunehmen vermochte. So dauerte es lediglich bis 1819, dass Offenbach tatsächlich „Industriehauptstadt“ Hessen – Darmstadts geworden war. Die im Jahr 1819 beschlossene „vollkommene bürgerliche Gewerbefreiheit“ sollte Industrie und Wirtschaft in die Stadt ziehen. Es dauerte nur zwei weitere Jahre, bis 1821 unter großherzoglicher Förderung die Handelskammer in Offenbach ins Leben gerufen wurde. Straßenanbindungen nach Seligenstadt, aber auch nach Sprendlingen, vor allem auch die „Schiffsbrücke“ über den Main, förderten die Entwicklung zum Produktionszentrum weiter.

Die Weigerung der Nachbarstadt Frankfurt, sich als Freie Stadt dem preußisch– hessischen Zollvertrag anzuschließen, führte zwischen 1828 und 1835 zur Etablierung einer „Messestadt Offenbach“. Das eigens für Messezwecke errichtete städtische Lagerhaus wurde ein Jahrhundert später zum Gebäude des Deutschen Ledermuseums. In einer großherzoglichen Bekanntmachung wurde 1829 ausgeführt, dass „während der Dauer dieser Messen (…) der Handelsverkehr der dieselben besuchenden, in Offenbach nicht einheimischen Inländer und Ausländer von aller Gewerbesteuer und von den in den Zunft – und Korporationsverhältnissen liegenden Beschränkungen befreit ( ist )“. Schließlich beendete die Ratifizierung des Zollabkommens durch Frankfurt jene kurze Ära als Messezentrum.

Trotz der Tatsache jedoch, dass die Rolle als Messestadt Episode blieb, war die Messe Anregerin eines ausgeprägten Wirtschaftswachstums. Den wirtschaftlichen Aufschwung Offenbachs belegt etwa die Aufstellung einer ersten Dampfmaschine in der Baumwollspinnerei Hauff im Jahr 1832. In das gleiche Jahr fiel auch die Gründung einer Handwerkerschule, die als früheste Vorgängerin der heutigen Hochschule für Gestaltung (HfG) angesehen werden kann. Ebenfalls 1832 wurde das Bankhaus Siegmund Merzbach in der ehemaligen Judengasse (der heutigen Großen Marktstraße) eröffnet. Im Jahr 1833 wurde eine städtische Sparkasse eröffnet, 1844 eine Lokalsektion des Hessischen Landesgewerbevereins zur Unterstützung der heimischen Wirtschaft gegründet.

Neben diesen und anderen „2 Binnenvorteilen“, die das großherzogliche Industriezentrum bot, war vor allem die „Fortschrittsfeindlichkeit“ des benachbarten Frankfurt ein Grund für den wirtschaftlichen Aufstieg Offenbachs. Das in vieler Hinsicht liberalere Offenbach bot einer industriellen Modernisierung deutlich bessere Möglichkeiten als das wirtschaftlich zunftorientierte Frankfurt. Neben der bereits vorhandenen Lederindustrie ließen sich auch Maschinenindustrie, Druckereibetriebe, Lithographischer Anstalten, Schriftgießereien und chemische Betriebe in der Stadt nieder, in der auch die Geruchsbelästigung „ Liberaler“ als in Frankfurt gehandhabt wurde. Da entsprechende Frankfurter Vorschriften rigider ausgelegt waren, etablierten sich Lichter – und Seifenproduktionen in Offenbach – so auch die bekannte Seifenfabrik Martin Kappus.

Allerdings war neben derlei Rahmenbedingungen vor allem auch die verkehrsmäßige Infrastruktur Offenbachs eine Garantin für das Wachsen der Stadt. Zunächst schien die Eröffnung der Main – Neckar – Bahn eine Abseitsstellung Offenbachs zu befördern. Aus diesem Grunde wurde insbesondere von Valentin Otto, Abgeordneter der Zweiten Kammer in Darmstadt, Vorsteher des Zollamtes Offenbach und später Ehrenbürger der Stadt, die Idee und Umsetzung einer Bahnanbindung nach Frankfurt vorangetrieben. Im Kontext der Märzunruhen 1848 konnte – vor allem durch Joseph Pirazzi und Salomon Stern, als Sprecher jener Offenbacher Bürgerdelegation in Darmstadt – die Inbetriebnahme der längst zuvor fertig gestellten Bahn nach Frankfurt – Sachsenhausen erzwungen werden. Der „ große Traum“ einer Verbindung nach Frankfurt im Westen und Hanau im Osten wurde jedoch erst Jahre später Wirklichkeit.

Wichtigstes Feld der industriellen Produktion in Offenbach war und blieb die Lederwarenherstellung. Größere Fabriken waren allerdings in der Minderzahl; Klein- und Mittelbetriebe überwogen. Viele Betriebe der Offenbacher Lederindustrie sind aus Familienunternehmen hervorgegangen, bevor sie sich zu ihrer endgültigen Produktionsgröße entwickelten. Die Lederwarenindustrie war auf die Zulieferung durch das Metallverarbeitende Gewerbe angewiesen, das dadurch ebenfalls eine aufsteigende Tendenz erhielt. Aus dem Schatten der Lederindustrie herausgewachsen, etablierten sich in Offenbach über die ursprünglichen Zulieferbetriebe hinaus im Verlauf des 19. Jahrhunderts bedeutende Metallwaren- und Maschinenbaufirmen. Eine besondere Rolle konnten auch das graphische und das Druckgewerbe einnehmen. Mit der Etablierung einer chemischen Industrie in der Stadt, die vor allem der Herstellung von Farben, Lacken und Seifen diente, war das „industrielle Kleeblatt“ der großherzoglichen Stadt komplettiert. Bereits 1857 liefen 25 Dampfmaschinen in der Industriestadt.

Offenbachs aufstrebende Industrie bot auch für die Bevölkerung des Umlandes viele Arbeitsplätze. Teilweise mit Fuhrwerken, vor allem aber zu Fuß, kamen frühmorgens Scharen von Arbeitern aus den umliegenden Ortschaften in die Stadt. War der Weg zu weit, wohnten viele die Woche über in der Nähe oder sogar in ihrer Fabrik. Erst nach einer anstrengenden 80-Stunden-Woche besuchten die Arbeiter am Sonntag ihren Heimatort.

Das Wachstum der Stadt

Im Laufe der Zeit entschlossen sich viele dieser Tages- oder Wochenendpendler, nach Offenbach zu ziehen, um den anstrengenden Weg oder die lange Abwesenheit von ihrer Familie zu vermeiden. Aus diesem Grund stieg die Nachfrage nach erschwinglichem Wohnraum gewaltig, wobei dieser nur zum Teil mit neuerrichteten Wohnquartieren billiger Bauart geschaffen werden konnte. Der Charakter dieser Gebäude als Zweckbauten, mit dem Ziel, eine möglichst große Menge von Menschen unterzubringen, lässt sich an der standardisierten, oft mangelhaften Bauausführung erkennen. Wohn- und Gewerbegebiete waren nicht streng getrennt, so dass ein weiterer Zweck, die Arbeiter in der Nähe ihrer Arbeitsplätze zu konzentrieren, miterfüllt wurde. Den Aufschwung der Stadt und ihre Attraktivität für Bewohner aus dem Umland belegt auch der Anstieg der Einwohnerzahl Offenbachs: von 1815 bis 1895 erhöhte sich diese von 6.000 auf 40.000; bis zum Ersten Weltkrieg verdoppelte sie sich nochmals auf knapp über 80.000 Menschen.

Bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren infrastrukturelle Defizite aufgrund der wachsenden Bevölkerungszahl deutlich spürbar – und wurden teils erfolgreich bekämpft. Aus allgemeinverantwortlichem Bürgersinn verzichteten im Jahr 1851 beispielsweise jene Offenbacher Bürger, die in ihnen Häusern Truppen beherbergt hatten, zugunsten des Baus einer Wasserleitung auf ihnen zustehende Einquartierungsgelder. Bereits ein Jahr später schlossen sich 22 Krankenkassen zum „Allgemeinen Krankenunterstützungsverein“ zusammen.

Auch die Bedeutung der Stadt als politisches Verwaltungszentrum stieg. Der 1848 aufgelöste Kreis Offenbach wurde 1852 wiederhergestellt. Allerdings wurde das Kreisgebiet verändert: Die Abteilung einiger Gebiete im Süden – von Babenhausen bis Urberach – wurde durch die Angliederung der Gegend um Langen ausgeglichen. Das Amt des Kreisrates wurde Wilhelm Willich übertragen. Eine weitere „geographische Veränderung“ betraf den verkehrstechnischen Bereich: Die Felsen im Main an der Kaiserlei – Furt wurden gesprengt, um notwendige Fahrrinnen für die immer intensiver einsetzende Nutzung des Flusses durch Dampfschiffe zu schaffen.

Am 28. Oktober 1858 wurde an der jetzigen Kaiserstraße ein Krankenhaus eröffnet. Das Gebäude diente später als Schule, Stadtbücherei und in den Jahren 1945 bis 1971 als Rathaus. Es war auch Sitz der Staatsanwaltschaft, ehe das denkmalgeschützte Haus im Jahr 2004 bei Sanierungsarbeiten Teileinstürze erlitt und daraufhin die Abrissgenehmigung erteilt wurde. Im gleichen Jahr 1858 wurden ein erstes Wasserwerk und Teile der Wasserleitung in Betrieb genommen. Auch die Gründung mehrerer Schulen in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts verweist auf infrastrukturelle Änderungen, die sich in Offenbach vollzogen und von der wachsenden Prosperität der Stadt Zeugnis ablegen.

Der Weg ins Kaiserreich

Die Entwicklung der Stadt als Industriezentrum des Großherzogtums Hessen wurde durch die politischen Ereignisse des Jahres 1866 empfindlich gestört, denn auch Offenbach war von den Folgen des preußisch – österreichischen Krieges betroffen. Nachdem das Großherzogtum Hessen – Darmstadt auf der Seite Österreichs gestanden hatte, war Offenbach, ebenso wie das benachbarte Frankfurt, als feindliches Territorium besetz worden. Um die unmittelbaren Folgen der militärischen Auseinandersetzungen zu mildern, gründete der Offenbacher Turnverein ein „Sanitätskorps“.

Trotz aller Turbulenzen des Jahres 1866 verlief die Entwicklung Offenbachs bis zur Reichsgründung von 1871 nicht grundlegend anders: Die Wahlberechtigten wählten Vertreter der „Fortschrittspartei“, eine Kunst- und Industrieschule des Ortsgewerbevereins bereicherte ab 1868 das Bildungsangebot der 20.308 Personen zählenden Stadt, die Vertreter der Offenbacher Arbeiterschaft, von denen mittlerweile etwa 5.000 bis 6.000 in der Lederwarenbranche tätig waren, organisierten sich enger und nahmen unter anderem auch an einem Arbeiterkongress (1868) in Nürnberg teil. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 schließlich, der zur Reichsgründung führte, kam auch das Sanitätskorps der Offenbacher Turner erneut zum Einsatz.

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