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Stadt Offenbach

1919: Alter Güterbahnhof wird stillgelegt

Die Fuhrmannskneipe stand vis-a-vis. Die Laderampe ist noch da. Nur verladen wird dort nichts mehr. Ein schmaler Hof mit breiter Einfahrt trennt sie von der Marienstraße. Dicht an ihrer Einmündung in die Sprendlinger Landstraße schmiegt sich die Halle, die heute eine Moschee beheimatet, mit der Rampe geduckt an den hoch aufragenden Bahndamm. An der Einfahrt zeigte noch lange ein Schild an, dass es sich hier um eine Anlage der Deutschen Bahn handelt. Die freilich hat dafür schon lange keine Verwendung mehr.

Der Offenbacher Hauptbahnhof um 1910. Links lag der ehemalige Güterbahnhof

Der Hof wird als Parkplatz in Anspruch genommen. Ab und zu schlurft eine Katze übers Pflaster. Die alte Halle mit der Rampe ist die letzte Erinnerung an den ersten Offenbacher Güterbahnhof. Er entstand, als 1873 die Strecke Frankfurt-Bebra die Stadt Offenbach mit dem deutschen Bahnnetz verknüpfte. Sozusagen als Weihnachtsgeschenk erhielt die Stadt am 15. Dezember einen Hauptbahnhof und westlich davon einen Güterbahnhof.

Als dieser Güterbahnhof vor nun 90 Jahren geschlossen wurde, hatte er 46 Jahre lang den wachsenden Güterumschlag einer expandierenden Industriestadt bewältigt. Ein Zeitungsartikel von 1919, dem Jahr der Schließung, spricht von 300 bis 400 Wagenladungen, die dort täglich an- und ausgeliefert worden seien. Die Rede ist von „täglichen Millionenwerten“.

Der Güterbahnhof hatte den Vorzug einer zentralen Lage. Und die Fuhrleute genossen es, gleich jenseits der Straße Tag für Tag den Umsatz einer Gaststätte fördern zu können. Andererseits genügt die räumliche Enge an der damaligen Moltke- und heutigen Marienstraße dem steigenden Verkehrsaufkommen schon lange nicht mehr. Der 1919 eröffnete neue Güterbahnhof an der Grenzstraße bot weitaus mehr Raum und Beweglichkeit.

Glücklich gemacht hat das jedoch nicht jeden der Offenbacher Nutzer. Vor allem kleinere Gewerbetreibende, die sich nicht eines Spediteurs, sondern des eigenen Handwagens bedienten, beklagten vor 90 Jahren, nun zu den Bahngleisen einen weiten Weg zurücklegen zu müssen. Die Offenbacher Zeitung schlug deshalb vor, innerhalb des Stadtgebiets „Güterannahmestellen“ einzurichten.

Für kleinere Gewerbebetriebe, so rechnete die Zeitung vor, „wird die Verlegung der Güterabfertigung nach dem äußersten Osten der Stadt eine kostspielige Neuerung sein. Stellt man sich vor, dass ein kleiner Gewerbetreibender eine Sendung von der unteren Ludwigstraße nach dem neuen Güterbahnhof oder umgekehrt durch einen seiner Leute schaffen lassen will, so sind für den Hin- und Rückweg nahezu drei Stunden 

Zu den dezentralen Annahmestellen kam es freilich nicht, und mittlerweile ist auch der neue Güterbahnhof von 1919 so bedeutungslos geworden wie sein Vorgänger an der Marienstraße. Dessen Gleisanlagen wurde zunächst nur noch erhalten als Ausweich während der geplanten Höherlegung des Gleiskörpers. Die ist zwar durch den Ersten Weltkrieg verzögert worden, aber als am 11. August 1925 erstmals ein Zug auf dem erhöhten Gleiskörper durch Offenbach fuhr, brauchte man den alten Güterbahnhof überhaupt nicht mehr. Er lag nun tief unterhalb der Gleise.

Für Offenbach stellte die Höherlegung der Gleise einen Segen dar. Bis dahin hatten die in kurzen Abständen immer wieder geschlossenen Bahnschranken den Süden der Stadt empfindlich vom Zentrum getrennt. Die Höherlegung war ein Befreiungsschlag. Den alten Güterbahnhof allerdings hat sie in einen tiefen Schlaf versetzt. Was von ihm nicht gleich abgerissen wurde, schläft noch immer.

Von Lothar R. Braun

Veröffentlicht in der OFFENBACH POST (Öffnet in einem neuen Tab)

 

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